EINE SCHWERE ENTSCHEIDUNG
Heute kommt der Antiquar und bringt meine Freunde weg. Sie begleiteten mich über vierzig
Jahre, um die sechstausend mögen es sein. Sie schenkten mir Einsichten und munterten mich
auf. Wenn ich heute nicht dumm bin, dann ist das ihr Verdienst.
Sieben Meter Regale, vom Boden bis zur Decke, zweireihig eingeräumt. Die Regalbretter
biegen sich schon. Auf den Büchern der ersten Reihe liegen neuere Bücher, sodass ich nicht
mehr sehe, welche dahinter sind. Dann ist da der Karton auf dem Speicher, dessen Inhalt ich
nicht mal mehr kenne. Kein Stückchen Fußboden mehr, um einen Lesesessel hinzustellen.
Ich habe versucht, einige im Antiquariat zu verkaufen. Der Antiquar sagte: „Ich gebe Ihnen
12 Euro für alle.“ Der Preis war so lächerlich niedrig, dass ich ihm kurz entschlossen
den Großteil meiner Bücher geschenkt habe. Dies lag nicht an meinen Büchern, sondern an
dem leichten Zugang zu E-Books. Man kann ja heute alles herunterladen. Vor zehn Jahren
zahlten Antiquariate einem vielleicht ein Viertel des Neupreises. Heute stehen an manchen
Bushaltestellen Schachteln mit dem Schild „Bitte mitnehmen“, denn viele wollen lieber Bücher
auf Bildschirmen.
Auf dem Buchmarkt von heute sieht es ähnlich aus wie bei mir im Regal: Er ist komplett
überschwemmt. 8,5 Milliarden Bücher stehen einer Schätzung nach in deutschen Haushalten
herum. Mit jedem Jahr kommen über 300 Millionen neue dazu. Und weil keiner sie wegwirft,
werden es immer mehr.
Einen Band nach dem anderen ziehe ich raus – und schiebe ihn wieder hinein. Astrid Lindgrens
Geschichten, die Rezepte von Bocuse – warum fällt das Aussortieren so schwer? Weil jedes
Buch eine Seele hat. Es bewahrt die Gedanken eines Menschen. Zu jedem Buch fallen mir
Situationen ein, in denen ich gerade dieses Buch brauchte. Die alte Ausgabe der Iphigenie auf
Tauris – ideal für den Urlaub am Strand. Die zwei Ausgaben von Thoreaus Walden haben
verschiedene Übersetzer, wäre spannend, das zu vergleichen. So schleicht sich mancher Titel
zurück ins Regal.
Der Antiquar sammelt Bücher halb wohltätig, halb kommerziell. Was er nicht online oder
im Antiquariat verkaufen kann, verschenkt er an Bedürftige. „Ich bin so etwas wie das gute
Gewissen der Leute, die ihre Bücher nicht in den Müll werfen wollen“, sagt er. Fast alle meine
Bücher nimmt er mit in sein Antiquariat. Ich gucke auf die Regale und fühle mich befreit.
Ein paar Passwörter öffnen mir jetzt den Zugang zu allem, was ich lesen will, schneller, als ich
meinen Hocker an die Regalwand schiebe.
nach: www.zeit.de