DIE LIEBE FAMILIE
Die meisten müssen arbeiten, um essen zu können, und essen, um wieder arbeiten zu können,
und so verbringen sie die ihnen zugeteilten Tage. Sebastian Wenzel hatte das nicht nötig.
Dass er einen Zuschauerplatz im Leben einnahm, war höchst erstaunlich. Denn sonst hatten
alle Wenzels immer etwas weniger, als sie brauchten. Bis auf eine Tante. Diese war zu großem
Reichtum gekommen. Ihr Mann hatte zusammen mit einer kleinen Farm unversehens eine
Kupfermine gekauft. Im Laufe des Lebens wurde sie Witwe und in der Familie der Gegenstand
allgemeiner Verehrung. Denn Kinder hatte sie nicht.
Als siebenjähriger Knabe hob Sebastian, im Beisein seiner Tante, eine Stecknadel vom Boden
auf. Die Tante, die dies beobachtete, sagte sich: In diesem Kinde steckt der wahre Sinn zur
Sparsamkeit. Sie beschloss bei sich, allen lauernden Verwandten zum Trotz, den kleinen
Neffen zu ihrem einzigen Erben einzusetzen. Sebastians Absicht war damals, die Stecknadel
mit der Spitze nach oben in den Sitz der Tante zu stecken. Er konnte sie nicht leiden, weil alle
sie umschmeichelten, obgleich eine große Warze auf ihrer kurzen, dicken Nase saß. Niemand
kann hinter die Stirn des anderen sehen. So müssen wir uns gefallen lassen, dass unseren
Handlungen falsche Beweggründe untergeschoben werden … Die Tante hatte ihren letzten
Willen geschrieben und lebte noch siebenunddreißigdreiviertel Jahre.
Inzwischen ging Sebastian Wenzel seinen Weg durch Kindheit und Jugend. Vielleicht lag seine
künftige Bestimmung als dunkle Ahnung in ihm. Wenigstens kannte er keine größere Freude,
als Geld anzuhäufen. Was anderen Jungen die Käfersammlung und später das Heftchen mit
den ersten unbeholfenen Reimen ist, war Sebastian das Sparkassenbuch.
Er war der einzige der Verwandten, der ohne Kranz zur Beerdigung der Tante kam. Es fiel ihm
nicht ein, Geld für etwas aus dem Fenster zu werfen, das niemandem etwas nutzte. Das Geld,
das er dafür hätte ausgeben müssen, trug er auf dem Rückweg vom Kirchhof zur Sparkasse.
An die Erbschaft dachte er nicht im Geringsten. Trotzdem ging er zur Testamentseröffnung.
Nicht weil er dabei etwas für sich erhoffte, sondern weil er an allem interessiert war, was mit
Geld zusammenhing. Anders wäre es kaum zu erklären gewesen, dass Sebastian an einen
Ort ging, wo er mit Sicherheit seiner ganzen Familie begegnen musste.
Die Begrüßung im Vorzimmer des Notars war allseits kühl und distanziert. Was von der Familie
Wenzel am Leben war und nicht mehr in den Kinderschuhen steckte, wartete hier verdrießlich
und unruhig. Groß, hager und mager stand Sebastian unter ihnen.
Man flüsterte, man scharrte ungeduldig mit den Füßen. Eigentlich dachten alle, in Bezug auf
die Erbschaft, nicht anders als Sebastian. Oft genug hatte die Tante wiederholt, dass ihr Tod
nur einem Einzigen Freude machen würde. Alle gingen davon aus, dass dies jemand aus der
Familie sein werde und nicht irgendein Fremder.
So saßen sie alle da in dem Glauben, dass das Glück ihnen bald lachen würde. Nur Sebastian
riss der Geduldsfaden. Er musste zurück in das Büro, er hatte nicht mehr als zwei Stunden
frei.
„Warte doch, Sebastian“, sagte eine seiner Schwestern. „Falls es spät wird, nimmst du dir eine
Droschke.“ Alle lachten und die Schwester am lautesten. Der Gedanke, dass sich Sebastian
Wenzel eine Droschke nehmen könne, war ebenso komisch, wie wenn man sich den Kaiser
barfuß durch die Straßen laufend vorstellte.
Sebastian warf einen verächtlichen Blick durch den Raum, verbeugte sich und ging. Im Büro
empfing ihn die spöttische Frage: „Nun, wie viel?“
„Ich habe die Sache nicht abwarten können“, sagte Sebastian, steckte den Bleistift hinter das
Ohr, nahm den Federhalter in die Hand und setzte sich an sein Schreibpult.
Zum letzten Mal. Einige Stunden später war er Millionär ...
nach: Alice Berend, www.gutenberg.spiegel.de