Damals, in jenem Sommer vor fast dreißig Jahren, wohnte ich im Westen. Ich hatte eine Einraumwohnung im Neubaugebiet und Arbeit in der Zigarettenfabrik. Abends saß ich oft auf meinem Balkon im fünften Stock. Einer der Vormieter hatte seine Blumenkästen dagelassen, in den Kästen wuchsen Pflanzen, die ich nie zuvor gesehen hatte. Zarte grüne Stängel mit weißen Blüten, ich goss sie niemals, trotzdem waren sie da. Auf dem Boden lag Kunstrasen, es gab einen Klapptisch und einen einzigen Stuhl, und der Blick ging auf die Ausfallstraße und die Tankstelle raus.
In diesem Sommer war es sehr heiß, und ich saß draußen, bis es spät und endlich dunkel wurde. Die Wärme wurde nicht weniger, sie stand zwischen den Häusern. Ich gewöhnte mir an, runter zur Tankstelle zu gehen und Eis zu kaufen. Die Eingangstür öffnete sich von alleine, und drinnen war es hell und kühl. Ich öffnete die Eistruhe, und stand lange davor, dann nahm ich ein Vanilleeis. Ausschließlich ein Vanilleeis, niemals ein anderes, aber ich tat trotzdem jedes Mal so, als könnte ich mich nicht entscheiden. An der Kasse saß eine Frau in dem Alter, in dem ich heute bin, erstaunlicherweise las sie ein Buch, und sie legte es, wenn sie kassieren musste, auf eine äußerst widerwillige Art beiseite, mich beeindruckte das. Es war Abend für Abend dieselbe Frau, und wir wechselten den ganzen Sommer über kein persönliches Wort miteinander.
An dem Abend, von dem ich erzählen möchte, standen zwei Leute an der Kasse. Ich wählte mein Eis, schob die Eistruhe zu und stellte mich an. Die Eingangstür surrte auf, und ein alter Mann kam rein. Er trug einen feinen schwarzen Anzug, seine Haare waren schlohweiß, sein Gesicht verwittert wie Holz. Ich sah ihn aus den Augenwinkeln reinkommen, er stellte sich direkt hinter mich in die Reihe. Ich konnte seinen Blick spüren und rückte einen Schritt vor. Er wartete noch einen Moment, dann berührte er mich am Ellbogen, und ich drehte mich um. Er sagte: „Sie sind klein. Genau richtig für mich.“
Ich erinnere mich deutlich an seine Stimme, sie war sehr leise und etwas rau. Ich möchte betonen, dass das, was er sagte, nicht zweideutig klang. Nicht obszön. Es war nur eigenartig, es ergab keinen Sinn. Ich war damals nicht klein, ich bin einen Meter und siebenundsechzig Zentimeter groß. Ist das klein? Nein, und ich sagte ihm das. Er hob beide Hände. „Nein, nicht wirklich, natürlich. Sie sind nicht klein. Sie sind ganz normal. Aber Sie sind klein genug für meinen Trick. Sie haben die richtigen Füße, Ihre Schultern sind schmal. Ich brauche eine neue Assistentin.“
Ich sagte: „Die richtige Assistentin für was?“. Ich wollte das nicht fragen, aber ich fragte es, ich wollte gar kein Gespräch mit ihm führen, aber ehe ich mich versah, führten wir eines. Er sagte: „Für meine Kiste. Die zersägte Jungfrau. Eine Assistentin zum Zersägen. Ich binZauberer.“
Ich dachte: „Na, so etwas könnte interessant sein …“ Aber ich sagte etwas gegen meinen Willen: „Nein danke. Tut mir leid.“ Und bezahlte mein Eis. Der alte Mann blieb hinter mir.
Er sagte: „Darf ich Sie ein Stück begleiten?“
– „Sie müssten erst mal bezahlen, oder?“
– „Oh nein, ich habe nicht getankt. Ich bin vorbeigelaufen. Ich habe Sie durchs Fenster gesehen, als Sie an der Eistruhe standen. Darum bin ich reingekommen.“
Also gingen wir zusammen raus.
Na podstawie: Judith Hermann: Daheim https://www.ebook.de